Novemberbruder

Eva starrt auf das verschmorte Gemüse und die orangerot glühende Herdplatte. Sie hatte sich doch nur kurz ans Fenster geschleppt, um ihre quälende Atemnot mit Frischluft zu besänftigen. Einen Augenblick war sie wohl abgelenkt, als sie den Postboten kommen sah. Kurz darauf drang das emsige, metallenen Klacken der Briefkastenklappen bis zu ihr in den dritten Stock. Wann hatte sie der letzte Brief, die letzte Karte aus der Welt da draußen erreicht? Hastig zieht sie den Topf von der Herdplatte. »Genauso sieht mein Leben aus«, sinniert sie bitter, »wie verkohlter Brokkoli.« Sie quält sich zu ihrem Sessel im Wohnzimmer, lässt sich hineinfallen, wickelt eine braunkarierte, verschlissene Wolldecke fest um ihren Körper und heftet ihren Blick auf die Zeiger der Standuhr. Strahlen einer trüben Novembersonne tasten sich in das Zimmer. Sie schaltet den Fernseher ein, um das Gefühl nutzlos verstreichender Zeit zu mildern. Als es an der Haustür klingelt, schreckt Eva hoch. Hastig greift sie ihre Krücke und schlurft zur Tür.

»Liebe Frau Kempe, ich freue mich, Sie gesund und munter anzutreffen«, begrüßt sie der Fremde, »im Namen der Kirchengemeinde gratuliere ich Ihnen herzlich zu Ihrem achtzigsten Geburtstag.«

Eva schweigt. Ihr stockender Atem ist das einzige Geräusch im Treppenhaus.

»Darf ich denn für einen Moment eintreten?«

»Nein«, antwortet Eva leise und schließt die Tür.

 

Claus fühlt sich unbehaglich. Er spannt die Schultern an, als sich die Flut der Geburtstagsglückwünsche über ihn ergießt. Kollegen der anderen Abteilungen halten Reden, gespickt mit Lobhudeleien und Anbiederungen. Sie überreichen ihm eine Kiste Rotwein und ein Buch voller Strichmännchen und dem Titel »Mit 50 fängt das Leben an«. Missmutig streicht er mit dem Daumen wie mit einem Radiergummi über das Deckblatt. Er verträgt seit Monaten keinen Rotwein mehr und hasst Witze über sein Alter. Er ringt sich ein schiefes Lächeln ab. Schließlich setzt auch die Vorsitzende des Betriebsrats zu einer Rede an. Claus stockt für einen Moment der Atem. Aber sie beschränkt sich auf wenige unverfängliche Worte und überreicht ihm einen kleinen Kaktus mit einer aufgesteckten gelben Blüte aus Seidenpapier. Es ist ein Friedensangebot. Aber es wird der Kündigungswelle, die er dem Vorstand zur Sanierung des Unternehmens vorgeschlagen hat, nicht standhalten.


Ein dreiviertel Jahr später:

Das Wohnzimmer im Hospiz ist ein ausgebauter Wintergarten. Vorhänge und Kissen, Teppich und Tischdecke, alles strahlt in satter Sonnenfarbe. Drei neue Gäste sitzen sich wortlos gegenüber.

»Guten Morgen, Frau Kempe, hallo Herr Becker, hallo Lisa«, begrüßt Schwester Ruth das schweigsame Trio. »Wissen Sie eigentlich, dass Sie etwas gemeinsam haben? Alle im gleichen Monat geboren, Novemberkinder!«

Irritiert starrt Claus sie an. »Na und?«

Ruth füllt frischen Tee in die Gläser und streichelt Lisa sanft übers Haar. Lisa reagiert mit einer kaum merklichen ruckartigen Bewegung ihrer Augen.

Eva strafft ihren Rücken. »Na, der nächste Geburtstag ist ja dann für uns alle noch eine Weile hin.« In Gedanken fügt sie hinzu: ...und den wird keiner von uns mehr erleben, schließlich sind wir zum Sterben hier und nicht zum Feiern.


In der folgenden Woche verlässt Claus kaum sein Zimmer, die Schmerzen machen ihm zu schaffen und es quälen ihn die immer gleichen Grübelschleifen. Hätte er seine Übelkeit und das Sodbrennen nur ernst genommen, wäre er früher zum Arzt gegangen. Hätte ihn seine Frau nicht verlassen und seine Tochter nicht verraten. Wäre er nicht Jahrzehnte gefangen gewesen in einem verhassten Job, umzingelt von Intriganten und Speichelleckern … Unter der Bettdecke ballt er die Fäuste und stößt einen Schrei aus und einen zweiten und einen dritten. Als die neuen Medikamente wirken, wickelt er sich bedächtig in seinen Morgenmantel und schlurft in den Wintergarten.

»Wann genau haben Sie denn Geburtstag?«, begrüßt ihn Eva, die bis zum Hals in ihrer alten Decke steckt.

Claus mustert das ausgemergelte Bündel Mensch in der Sofaecke. In ihrem kleinen Gesicht klemmt eine Sauerstoffbrille wie ein langbeiniges Insekt. Statt zu antworten, murmelt er: »Es stört Sie doch nicht, wenn ich den Fernseher anmache?«

»Doch, das stört mich«, antwortet Eva leise, aber ohne kompromissbereiten Unterton in der Stimme. »Lisa hatte wieder Besuch von ihren Eltern«, fährt sie unvermittelt fort und deutet mit einer kurzen Kopfbewegung in Richtung der offenen Zimmertür. »Nicht einfach für die Eltern.«

»Ist für keinen hier einfach«, erwidert Claus verächtlich.


Für gewöhnlich belegt Eva im Wintergarten den Platz auf der Couch neben dem Fenster. Claus bevorzugt einen geräumigen Ohrensessel in einigem Abstand. Meistens ist auch Lisa hier, eingepackt in ihrem Rollstuhl in halb liegender Position zwischen den beiden.

Eva nickt Lisa zu. »Soll ich dir heute vielleicht mal was vorlesen?«

»Weder kann Lisa Ihnen antworten, noch verstehen, was Sie lesen«, grunzt Claus aus der Tiefe seiner Polster, »apallisches Syndrom.« Kopfschüttelnd greift er zu seiner Zeitung.

»Klugscheißer«, zischt Eva mit ungewohnt klarer, lauter Stimme, »aufgeblasener Klugscheißer!«

Claus zuckt zusammen und dann beginnt er, laut zu lachen. Aus den Tiefen seiner Eingeweide sprudelt es heraus, ein tosendes Gelächter. Gegen Abend bekommt er Besuch von einer trist gekleideten Abordnung seiner Firma. Die Männer reden langsam und überartikuliert, so als sei er nicht klar bei Verstand. Dabei nicken sie ihm mit starrem Lächeln unentwegt zu. Nach einer knappen Viertelstunde treten sie die Flucht an. »Gute Besserung und ruhen Sie sich gut aus.«

Claus schlurft mit ihnen das kleine Stück bis zum Lift. »Ach übrigens«, ruft er ihnen hinterher, als sich die Aufzugstür schon schließt, »ich habe nicht die Grippe, sondern Krebs. Und ich werde daran sterben.« Er tappt zurück in den Wintergarten. Ächzend lässt er sich in den Sessel fallen. »Blöde Bande.« Erst jetzt bemerkt er Eva an ihrem gewohnten Platz, die ungerührt ihren Pfefferminztee schlürft. »Die Wahrheit ist, es interessiert kein Schwein, wie es mir geht. Ich bin eine Nullnummer seit dem hier.« Mit vager Geste fasst er sich an seinen Bauch.


An einem Tag im Oktober bleibt Lisas Tür geschlossen. Auf dem Tischchen vor dem Stationszimmer brennt eine Kerze. Eva und Claus hängen schweigend ihren Gedanken nach. Ein leichter Herbstwind fängt sich in der Gardine, der Nachmittag ist voller Wärme und Licht.

»Die Natur da draußen lacht über den Tod«, sagt Claus leise.

»Wir Menschen sind nicht wichtig, wir nehmen uns nur wichtig«, stimmt Eva zu, während sie mit einer heftigen Hustenattacke kämpft.

»Ob es Lisa jetzt gut geht ...«, sinniert Claus. »Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?«

Als der Hustenkrampf nachlässt, antwortet Eva verdrossen: »Ich glaube an gar nichts, außer an meinen gesunden Menschenverstand. Der lässt mich allerdings mehr und mehr im Stich.«

Beide schweigen. Dann greift Claus den Faden noch einmal auf: »Wenn man wenigstens einen Sinn erkennen könnte ...«

Eva zieht die Augenbrauen zusammen. »Ein bisschen Zeit bleibt Ihnen noch, da können Sie sich Ihren Sinn ja basteln.«

»Also, wenn ich ein Klugscheißer bin, dann sind Sie eine verdammte Zynikerin«, gibt Claus zurück.

Mit verschmitztem Lächeln entgegnet sie: »Da hast du Recht, Bub.«


Heute ist Eva zu schwach, ihr Zimmer zu verlassen. Vorsichtig lugt Claus durch die halb geöffnete Tür: »Was dagegen, wenn ich kurz reinkomme?«

»Hmm«, ist die leise Antwort aus dem Kissenberg.

Claus verharrt unschlüssig im Türrahmen. Eva lässt ihre flache Hand zweimal auf die Bettdecke klatschen. Das sieht nach einem Ja aus. Claus setzt sich zu ihr. Wie klein und dünn sie ist, ihr Gesicht wie aus Holz geschnitzt, straff mit gelblicher Haut überzogen.

»Tja also«, beginnt er unschlüssig, »ich bleib jetzt einfach mal ein kleines bisschen bei dir.« Auch am nächsten und übernächsten Tag sitzt er an ihrem Bett. Er redet Belangloses, doch er beginnt, ihr auch Dinge aus seinem Leben anzuvertrauen, über die er noch nie gesprochen hat. Er lernt, in ihren Augen zu lesen: Zustimmung, Überraschung, Überdruss, Schmerz. Zur Begrüßung und zum Abschied berührt er ihre Hände. Noch immer erschrickt er, wie kühl und zerbrechlich sie sich anfühlt.


Wenige Tage später sitzt Eva wieder an ihrem gewohnten Platz im Wintergarten. »Warum kann ich altes Weib nicht sterben und unsere Lisa musste so früh gehen?«, murmelt sie vor sich hin, »mich wird ohnehin niemand vermissen.«

»Wirklich niemand?«, hakt Claus nach.

»Nein, ich habe keinen Menschen, ich habe nur Schmerzen, Husten und hässliche Erinnerungen.« Nach einer kleinen Pause fährt sie fort: »Und lang begrabene Hoffnungen.«

Claus schaut sie nachdenklich an. Dann erwidert er leise: »Weißt du, dass es noch mehr schmerzt, wenn die Hoffnung lebendig bleibt und Tag für verdammten Tag enttäuscht wird?«

»Deine Tochter?«, fragt sie, obwohl sie die Antwort weiß.

Er nickt und beißt sich auf die Lippen.

»Erzähl mir noch einmal von ihr«, ermuntert sie ihn. Dabei kramt sie umständlich ein Papiertaschentuch aus den Falten ihrer Wolldecke und reicht es ihm: »Hier, dir ist was ins Auge geflogen, großer, starker Mann.«

»Danke«, sagt er, »übrigens ich werde dich sehr vermissen, falls du vor mir gehst.«


Der Spätherbst spült mattes, graues Licht durch die Fensterscheiben. Claus kann sein Bett nicht mehr verlassen. Seine Augen sind starr gegen die Decke gerichtet. Wasser in der Lunge macht das Atmen schwer. Eva verharrt in ihrem Rollstuhl an seiner Seite. Die Stunden vergehen.

»Es ist bald vorbei, mein tapferer Junge.« Mühevoll steht sie auf, beugt sich über sein Bett. Zärtlich massieren ihre steifen Finger seine Stirn. Er greift ihre Arme und zieht sie zu sich. Sie lässt es geschehen, obwohl ihr Körper der Strapaze dieser Bewegung kaum gewachsen ist.

»Hab keine Angst«, flüstert sie wieder und wieder, »hab keine Angst.«

Er will sprechen, aber sein Mund kann die Worte nicht formen.

Eva schaut ihm fest in die Augen. »Alles wird gut. Nur noch eine kleine Weile, dann bist du frei wie ein Vogel.« Täuscht sie sich oder war das der Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht?


In das Kondolenzbuch trägt sie sich als erste ein. Sie beginnt zu schreiben: »Novemberbruder!« Sie schreibt weiter, Seite um Seite bis ihre Finger zu sehr schmerzen und kaum mehr leserlich fügt sie hinzu: »Bis bald, wir sehen uns.«

Ruth setzt sich zu ihr. Sanft tupft sie ihr die Tränen von der Wange.

 

»Es ist gut«, sagt Eva, »ich weine vor Glück. Ich habe einem Menschen etwas bedeutet.« 

 

 

Siegertext  Nordhessischer Literaturpreis 2018